Der folgende Artikel erschien erstmals 2009 in der katholischen Monatszeitschrift Kirchliche Umschau. Wegen seiner Aktualität und der kritischen Betrachtung des Personalismus lohnt sich eine Veröffentlichung im Blog.
Die moderne liberalistische Gesellschaft ist völlig unfähig
ein allgemeines sittliches Gesamtbewußtsein hervorzubringen, wie es vor allem
im Mittelalter, aber auch noch einige Jahrhunderte später in fast allen
europäischen Ländern zu finden war. Die liberale Gesellschaft wird beherrscht
von Interessengruppen und Parteien, die ihre eigenen Bedürfnisse und
Weltanschauungen gegen andere durchzusetzen versuchen. Wenn es in einer solchen
liberalistischen Gesellschaft einer Gruppe oder Partei ermöglicht würde, ihre
Interessen und Anschauungen durchzusetzen, dann wäre das Gemeinwohl als Ziel
der Gesellschaft sofort zerstört. Denn das Gemeinwohl ist das Wohl der ganzen
Gemeinschaft, des gesamten Staates und setzt ein sittliches Gesamtbewußtsein
voraus. Da aber ein Gesamtbewußtsein der Gesellschaft fehlt und nur Parteien
gegeneinander antreten, muß in einer liberalistischen Gesellschaft das
Gemeinwohl in anderer Weise verwirklicht werden als in einer Gesellschaft, die
ein sittliches Gesamtbewußtsein hervorgebracht hat.
Dies bedeutet aber sicherlich nicht, daß das von der
überlieferten katholischen Soziallehre verteidigte Ideal eines göttlichen
ethischen Gemeinwohls aufgegeben werden sollte, sondern nur, daß man in der
gegenwärtigen Gesellschaft vom strengsten rechtlichen Gesichtspunkt, dem der
Verkehrsgerechtigkeit, auszugehen hat, nach dem man den einzelnen Menschen in
seiner Freiheit zu belassen hat und ihn erst im Hinblick auf das bedrohte
Gemeinwohl beschränken muß. Dies führt zu dem pragmatischen Grundsatz, der
allerdings nur für die gegenwärtige Situation gelten kann und bereits von
verschiedenen Sozialethikern und Papst Pius XII. in den fünfziger Jahren des
letzten Jahrhunderts vertreten wurde: So viel Freiheit wie möglich, soviel
Autorität wie notwendig.
Dieser Grundsatz, dies muß mit aller Deutlichkeit verstanden
werden, erwächst aus der erfahrungsmäßigen
und praktischen Erkenntnis, die weder
etwas mit Theologie zu tun hat noch aus dem Wesen des Menschen folgt, daß der
Mensch in der gegenwärtigen konkreten geistigen Verfassung, in der ein
sittliches Gesamtbewußtsein fehlt, ein echtes Gemeinwohl im christlichen und
naturrechtlichen Sinne nicht verwirklichen kann.
Geht man hingegen von dem Grundsatz: „So viel Freiheit wie
möglich, soviel Autorität wie notwendig“ als Prinzip der Sozialethik aus, dann setzt man die individuelle
Freiheit als das höchste Gut des Menschen. Diese falsche Lehre ist die des
Liberalismus, der durch den christlichen Personalismus seit den dreißiger
Jahren des 20. Jahrhunderts in die katholische Kirche und Soziallehre
eingedrungen ist. Der Personalismus ist eine falsche Lehre, über die der
Protestantismus und der aus ihm folgende Liberalismus Eingang in die
katholische Kirche gefunden hat und im Zweiten Vatikanische Konzil und danach zur vorherrschenden
Lehre wurde. Diese Zusammenhänge sind bisher kaum untersucht worden (zur Kritik
des Personalismus vgl. W. Hoeres 1969, 2001). Der folgende Aufsatz will dazu
einen kleinen Beitrag leisten, der durch weitere Studien untermauert werden
muß.
Bei
aller Verschiedenheit der personalistischen Theorien steht im Mittelpunkt dieser
Lehre die Überzeugung, daß der Mensch sich wesentlich durch die Fähigkeit zu freier
Entscheidung und Verantwortlichkeit für sein Handeln auszeichnet und daß diese
strukturelle Freiheit einen unveräußerlichen, höchsten Wert und Selbstzweck
darstellt. Schon mit diesem Ansatz ist der Personalismus in direkter Nähe zum
Liberalismus. Im Unterschied zum Liberalismus sieht der Personalismus
christlicher Prägung den Menschen in seiner Beziehung zu Gott, wobei er diese
Beziehung als die ursprünglichste und fundamentalste Beziehung des Menschen
überhaupt versteht. Doch wie Arthur-Fridolin Utz (1958 325ff.) gezeigt hat,
liegt gerade hier ein logischer Widerspruch im Ansatz des Personalismus. Denn
der Personalismus akzeptiert die Autorität nur in einem negativen Sinne als
Begrenzung der Freiheit, wie sie im Prinzip „So viel Freiheit wie
möglich, soviel Autorität wie notwendig“ zum Ausdruck kommt. Doch gerade, wenn
die grundlegende Beziehung des Menschen zu Gott das Fundament des Personalismus
sein soll, steht eine negative Bestimmung der Autorität dazu im Widerspruch.
„Jedenfalls wird das Endgericht, das nicht nur den einzelnen, sondern auch die
Gesellschaft als Ganzes autoritativ richtet, in folgerichtiger Fortsetzung des
autoritativen Charakters jeder sittlichen Organisation vor sich gehen. Dort wird
auch nicht mehr nach dem hier geltenden Menschenrecht auf Religionsfreiheit
gefragt. Eine Autorität, die den sittlichen und religiösen Charakter der
menschlichen Person und damit auch der in der Menschheit als Ganzem
gesellschaftlich verbundenen Personen wahrt und in ihren Grenzen und
Anordnungen die sittliche und religiöse Vollkommenheit der Menschen garantiert,
kann nur als ein Vorteil und ein willkommenes Glück bezeichnet werden. In dem
Sinne ist das Christentum froh um die Gesetze Christi und möchte keines von
ihnen missen. Im selben Geist unterwirft sich der Christ der unfehlbaren
Autorität, heißt er jede autoritative Wegweisung willkommen, weil sie ihn vor
Unsicherheit bewahrt. Wäre nicht im Wesen der sittlichen Gesellschaft die
Unterordnung unter die Autorität beschlossen, wir kämen niemals zu einer
sittlichen und religiösen Auffassung des Gehorsams, wie sie z.B. Paulus im Römerbrief ausgesprochen hat
und wie sie in allen christlichen Jahrhunderten, besonders auch von Leo XII. betont worden ist.“ (Ibid 325)
Auf der Grundlage des richtig verstandenen Naturrechts ist
die Autorität eine wesentliche Bestimmung der menschlichen Gesellschaft und
nicht nur ein bloß notwendiges Instrument zur Beschränkung der menschlichen
Willkür. Jede rechtliche Organisation einer Gesellschaft beruht auf Gesetzen
und jedes Gesetz setzt eine Autorität voraus. Wenn nun allerdings eine konkret
gegebene Autorität aufhört in der Ausübung ihrer Autorität ein Garant der
sittlich-religiösen Orientierung zu sein, dann schwindet auch die Befürwortung
einer weitgehenden Autorität. Unsere moderne liberalistische Gesellschaft
befindet sich nun genau in dieser Situation. Sie weist eine wegweisende
sittlich-religiöse Orientierung nicht auf und ist in diesem Sinne keine
Autorität. Grundsätzlich gilt zunächst, daß keine menschliche Autorität
unfehlbar ist und insofern nicht dazu berufen ist, ihre eigenen Auffassungen
allen gesellschaftlichen Gliedern aufzuzwingen, solange diese
gesellschaftlichen Glieder ihre Freiheit in sittlicher Verantwortung gebrauchen
und zum Gemeinwohl beitragen. Die heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse sind
zudem so, daß die Gesellschaft in sich „nicht einmal mehr eine geschlossene
Weltanschauung und Gewissensbildung“ besitzt, „so dass die von ihr bestellte
Autorität von vornherein nicht der erste Wegweiser sein kann.“ (Ibid 326)
Deshalb ist in dieser heutigen Situation die Beschränkung der Macht und
Autorität des Staates bzw. der staatlichen Organe eine richtige praktische
Forderung, wie sie in dem Grundsatz: „So viel Freiheit wie möglich, soviel
Autorität wie notwendig“ zum Ausdruck kommt.
Der Personalismus hat diesen pragmatischen Grundsatz für
unsere Zeit allerdings zu einem allgemeinen theoretischen Prinzip erhoben und
leugnet damit das positive Wesen der Autorität. Der für den christlichen
Personalismus wohl wichtigste Vertreter ist der französische Philosoph Jacques Maritain, dessen „integraler Humanismus“ großen Einfluß
auf katholische Philosophen und Theologen gewonnen hat und in wichtigen
Dokumenten des Zweiten Vatikanische Konzils Eingang
gefunden hat. Weitere bekannte Vertreter des christlich
geprägten Personalismus sind Gabriel Marcel, Romano Guardini, Max Scheler oder
auch Karol Wojtyla, der spätere Papst Johannes Paul II. Der Personalismus steht
in enger Beziehung zur sogenannten Lebensphilosophie des frühen 20.
Jahrhunderts – Maritain war Schüler des bekanntesten Lebensphilosophen Henri
Bergson – und zum Existentialismus.
Sozialphilosophisch ist der Personalismus vor allem dadurch
gekennzeichnet, daß er von der individuellen Person ausgeht, die in ihrer
Beziehung mit anderen Personen die Gesellschaft konstituiert. Auch in dieser
Hinsicht weist der Personalismus eine Nähe zum Liberalismus auf, der die
Gesellschaft als durch einen Vertrag zwischen Individuen konstituiert
betrachtet, also als etwas sekundäres und nicht zum Wesen des Menschen Gehörendes.
Der Personalismus versteht die Gesellschaft als durch die Relationen der
Menschen zueinander konstituiert, wobei er allerdings, im Unterschied zum
Liberalismus, diese Relationen als wesentlich zum Menschsein gehörend versteht.
Gleichwohl bleibt der Ausgangspunkt der Gesellschaft, wie beim Individualismus,
die vielen Einzelnen. Die klassische katholische Sozialethik geht hingegen vom
Ganzen aus und unterscheidet sich gerade dadurch von der Individualethik, die
die persönlichen Tugenden betrachtet. Die neuscholastische Sozialethik ist der
Auffassung, daß die Gesellschaft etwas Eigenes ist und mehr als die Summe der
Teile, der Personen, die zur Gesellschaft gehören. So bildet das Gemeinwohl das
oberste Prinzip der thomistischen Sozialethik, dem die Glieder der
Gemeinschaft, die Personen, als ihrem Ziel dienen sollen. A.-F. Utz definiert
das Gemeinwohl denn auch als „Äußere Güter oder Werte, sofern sie Ziel von
Handlungen vieler sind, innerhalb deren der Einzelne mit seiner Handlung
Teilfunktion ausübt.“ (Ibid 132). Das Gemeinwohl stellt einen eigenen Wert da,
obwohl er nur durch die Einzelnen verwirklicht wird. Er ist nicht bloß die
Summe der Einzelwohle, sondern von diesen verschieden.
Hier zeigt sich nun ein deutlicher Unterschied zum Personalismus,
der sich unberechtigterweise auch auf Thomas von Aquin beruft. Die Gesellschaft
steht nach Auffassung des Personalismus vor allem in Dienst der Person, sie
soll der Entfaltung seiner Persönlichkeit dienen. Anders die überlieferte
Sozialethik, nach der der Einzelne dem Gemeinwohl zu dienen hat, was freilich
keineswegs ausschließt, daß dies auch der Entfaltung seiner Persönlichkeit zugutekommt.
Der Staat ist nach personalistischer Auffassung der Zweck der menschlichen
Person, eine Institution, die das Individuum ergänzt und so die Person
unterstützt und fördert. Das Gemeinwohl steht entsprechend im Dienst des
Einzelnen, ist reiner „Dienstwert zugunsten der Einzelmenschen“ (Ibid 318).
Nun ist diese Auffassung nicht grundsätzlich falsch, zumal auch
Papst Pius XII. sie in zahlreichen Ansprachen wiederholt hat, indem er zum
Beispiel darauf hinwies, daß der Mensch vor dem Staat da ist und der Mensch
nicht dem Staat zu dienen hat, sondern umgekehrt, der Staat für den Menschen da
ist. Doch dies ist keineswegs vor dem Hintergrund eines radikalen
Individualismus gesagt, für den der Staat nur ein Selbstbedienungsladen zur
Verwirklichung der eigenen Bedürfnisse ist. Der Staat dient dem Menschen insofern,
als er dazu beiträgt, daß persönliche Ziel des Menschen zu erreichen. Dieses
persönliche Ziel jedes Menschen ist zunächst die irdische Wohlfahrt, das
persönliche Einzelwohl, das wiederum dem ewigen Ziel des Menschen, der
Anschauung Gottes, untergeordnet ist. So kann es nicht die Aufgabe des Staates
sein, die Kirche in ihrer Tätigkeit zu behindern, oder Gesetze zu erlassen, die
es dem Menschen erschweren, sein ewiges Ziel zu erreichen, wenn diese Gesetze
auch seiner persönlichen kurzfristigen Befriedigung angenehm sein sollten.
Während die klassische Sozialethik gewissermaßen das Ideal des
Einklangs von Gemeinwohl und Einzelwohl in den Mittelpunkt gestellt hat und
damit die innere Verbundenheit von Person und Staat betont, findet sich beim
Personalismus eine Gegenüberstellung von Mensch und Staat. Hierfür verwendet
der Sozialethiker Oskar von Nell-Breuning den Begriff der „Contradistinctio“.
Auch hier liegt der Fehler nicht so sehr in der durchaus richtigen
Unterscheidung von Person und Gesellschaft, Einzelnem und Staat, sondern darin,
daß diese Unterscheidung zum Ausgangspunkt der gesamten Betrachtung gemacht
wird.
Aus dem bereits gesagten folgt ein neues Verständnis vom Wohl der
Gemeinschaft, das nach personalistischer Auffassung nur in der richtigen
Organisation der persönlichen Freiheit besteht. Das Gemeinwohl besteht, anders
gesagt, darin, daß alle Institutionen den Gemeinschaftsgliedern dazu verhelfen
sollen, ihre eigenen Kräfte anzuregen und zu höchsten Entfaltung der
Persönlichkeit zu führen, zur vollen Entfaltung der Freiheit in Verantwortung.
Man erkennt auch hier die Nähe zum liberalen Individualismus, obgleich dieser
sich doch vom Personalismus unterscheidet. Aus diesem Ansatz ergibt sich auch
das Aufbauprinzip der personalistischen Gesellschaft: „So viel Freiheit wie
möglich, soviel Autorität wie nötig“. Deshalb ist die Autorität kein
wesensmäßig notwendiges Aufbauprinzip der Gesellschaft, sondern nur eine conditio sine qua non. Das Problem
dieser Lehre besteht nicht darin, daß sie ein solches Prinzip für unsere
moderne gesellschaftliche Situation vertritt, sondern daß sie dies als
grundsätzliches theoretisches Prinzip der Gesellschaft vertritt. Wie gesagt ist
dieses Prinzip von einem pragmatischen Gesichtspunkt angesichts der
gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse durchaus akzeptabel und wurde
deshalb auch von Papst Pius XII. vertreten. Es darf aber nicht zu einem
allgemeinen Prinzip der Gesellschaftslehre erhoben werden.
Eine weitere Folge des Personalismus ist das, was im Begriff der
sozialen Gerechtigkeit zusammengefaßt wird. Soziale Gerechtigkeit im Sinne des
Personalismus ist die Tugend, die den einzelnen Menschen in seiner freien
Entfaltung in Hinordnung auf das Gemeinwohl koordiniert. Diese Auffassung der
sozialen Gerechtigkeit geht auf den italienischen Jesuiten und Sozialethiker
des 19. Jahrhunderts Taparelli zurück. Bei Taparelli findet sich erstmals
gewissermaßen eine Umstellung der Blickrichtung in der Bestimmung der sozialen
Gerechtigkeit, bzw. der Gemeinwohlgerechtigkeit. Nach der Lehre des hl. Thomas
ist die soziale Gerechtigkeit eine Tugend, die darin besteht, daß der einzelne
Mensch bereitwillig die Teilfunktion innerhalb der ganzen menschlichen
Gemeinschaft, zu der er gehört, übernimmt. Hier erfolgt die Bestimmung der
Gerechtigkeit im Ausgang vom Ganzen, der Gesellschaft, bzw. dem
gesellschaftlichen Gemeinwohl zum Einzelnen. Taparelli nimmt den Ausgangspunkt
von der individuellen Person und bestimmt von ihr aus das Gemeinwohl. So heißt
es bei ihm: „Die Handlungen des Menschen werden also gerecht sein, wenn sie den
verschiedenen individuellen Rechten seiner Mitmenschen angepaßt sind“. Dies
hört sich bereits sehr individualistisch an, besonders wenn man hier von „individuellen
Rechten“ liest und so wird Taparelli denn heute auch von zahlreichen
liberal-katholischen Sozialethikern als Vorläufer betrachtet, was allerdings
nicht zutreffend ist. Dies wird deutlich, wenn man bei ihm liest, daß bei einem
Konflikt zweier verschiedener Rechte dasjenige Recht den Vorzug hat, daß
allgemeiner ist, d.h. die Gesamtordnung betrifft: „Das Recht ist ein aus der
Ordnung entspringendes, vernunftmäßiges Vermögen, also ist es um so stärker, je
allgemeiner die Ordnung, je wichtiger die Materie und je überzeugender die
Gründe sind“. Einen solchen Satz wird man bei unseren liberalen Sozialethikern
zweifellos nicht finden. Taparelli betont sogar, daß das „Sozialrecht dem
Rechte der einzelnen“ und „das öffentliche dem Privatrechte“ vorzuziehen ist.
Allerdings kann man Taparelli in gewisser Hinsicht dennoch als Vorläufer der
modernen Auffassung und des Personalismus verstehen, da er vom Einzelnen und
seinen individuellen Rechten ausgeht und diese dann in eine Ordnung des
Zusammenlebens mit den anderen bringt. Damit wird die Frage nach der Verwirklichung des Gemeinwohls in den
Mittelpunkt gerückt und diese geschieht natürlich über die persönlichen
Handlungen der einzelnen. Das Gemeinwohl wird so als Ergebnis von
Einzelhandlungen verstanden.
Nach der überlieferten Auffassung, insbesondere des hl. Thomas,
ist das Gemeinwohl eine allgemeine Entität, ein Universale, wie die Philosophen sagen. Die Nominalisten bestreiten,
daß es allgemeine Entitäten, Universalien, gibt. Für sie existiert nur das
Individuelle und alle Allgemeinheiten sind bloße Namen (nomen; daher die Bezeichnung Nominalismus für diese im
Spätmittelalter entstehende philosophische Richtung). Der Nominalist kann
folglich ein an sich bestehendes Gemeinwohl nicht anerkennen und erklärt dieses
durch die Verwirklichung von Individuen. Freilich behauptet auch der Realist
nicht, daß das Gemeinwohl in einem platonischen Ideenhimmel an sich besteht,
sondern nur durch und in den Handlungen der Menschen, doch ist es dennoch nicht
bloß das Ergebnis dieser Handlungen. Hier zeigt sich, welche Bedeutung
philosophische Auffassungen, die für den Laien nicht selten nach Gedankenspiele
im Elfenbeinturm aussehen, für das praktische Leben und die geschichtliche
Entwicklung haben. Der Nominalismus ist die philosophische Grundlage des
Protestantismus, des Liberalismus und Sozialismus und der gesamten Entwicklung
seit dem Zweiten Vatikanische Konzil. Solange
die Kirche den Nominalismus in seine Schranken gewiesen hat, wie dies zuletzt
vor allem in der Neuscholastik der Fall war, konnte sie die modernen Theorien
zurückweisen. Nachdem zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Neuscholastik und der
Einfluß der Philosophie des hl. Thomas immer mehr an Bedeutung verlor und
moderne Philosophien wie der Idealismus, die Phänomenologie, die
Lebensphilosophie und der Existentialismus, die in ihrer ontologischen
Grundlage alle nominalistisch sind, auf positives Interesse bei katholischen
Theologen stieß, gewann der Nominalismus immer stärkeren Einfluß in der
katholischen Theologie und schließlich auf die kirchliche Lehre. Der Kampf des
katholischen Lehramtes gegen den Liberalismus und den Modernismus im 19.
Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist in
philosophischer Hinsicht ein Kampf zwischen Nominalismus und Realismus.
Doch
kehren wir zurück zum Personalismus, der in seiner gesamten ontologischen
Grundlage vom Nominalismus bestimmt ist und durch den die neuen Ideen der
liberalen Menschenrechte, der Religionsfreiheit und das neue Staatsverständnis
Eingang in die kirchliche Lehre gefunden haben. Der Personalismus war schon
früh darum bemüht, die modernen liberalen Vorstellungen des Staates und die
Idee individueller, vorstaatlicher Rechte mit der kirchlichen Soziallehre und
dem christlichen Naturrechtsverständnis in Einklang zu bringen. Das dies
grundsätzlich unmöglich ist, da beide Lehren auf nahezu entgegengesetzten
Prinzipien beruhen, wie Pius IX im Syllabus
dargelegt hat und wie es in der Enzyklika Pascendi
Dominici Gregis Pius’ X. in aller Klarheit herausgestellt wird, wurde
ignoriert. Während die streng am hl. Thomas orientierte dominikanische Schule
die Gefahren des Personalismus im allgemeinen klar erkannte und noch bis zum
Ende der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts kritisierte (vgl. Utz,
Welty), zeigten einige Jesuiten durchaus Sympathien, zumal der Personalismus
eines Maritain zutiefst christliche Gedanken enthält und sich durchgängig auf
Thomas von Aquin beruft.
Die zentrale Rolle des Personalismus
für die Anerkennung der modernen Ideen des Liberalismus durch die Kirche im
Zweite Vatikanische Konzil stellt Rudolf Uertz in seiner Habilitationsschrift
„Vom Gottesrecht zum Menschenrecht. Das katholische Staatsdenken in Deutschland
von der französischen Revolution bis zum II. Vatikanischen Konzil“ heraus.
Uertz macht deutlich – und hier ist ihm zuzustimmen – daß die neue Lehre
bezüglich des Staatsdenkens, der Menschenrechte und der Religionsfreiheit einen
klaren Bruch mit der gesamten katholischen Lehrtradition darstellt, und sein
Werk stellt eine Rechfertigung dieses Bruchs dar. Das Kapitel „Die Durchsetzung
des christlichen Personalismus“ beginnt mit den folgenden Worten, die
gewissermaßen das ganze Programm des Buches darstellen: „Daß der
pluralistisch-demokratische Rechts- und Verfassungsstaat und das dazugehörige
Parteiensystem bloßer „Behelf“ oder „Versuch“ sei, ist eine Aussage, die in
dieser Form nicht ethisch, sondern theologisch abgestützt ist. Der kirchlich-doktrinäre
Absolutheitsanspruch hat jedoch ausschließlich im christlichen Glauben und
Offenbarungsdenken seinen Platz, ihn auf die natürliche Ordnung von Staat und
Gesellschaft auszudehnen, besitzen Kirche und Theologie keine Kompetenz“
(439f.). Klarer kann man es kaum sagen! Wollte jemand die Auffassung des „katholischen“
Liberalismus in einem Satz zusammenfassen, so findet er ihn in dieser
ungeheuerlichen Aussage. Die Kirche soll sich auf die Sakristei begrenzen und
den Staat sich selbst überlassen, der schon auch ohne Kirche in der Lage ist,
selbst zu entscheiden und festzulegen, was für ihn moralisch richtig ist.
Trennung von Staat und Kirche! Die Kirche ist nicht irgendein Kegelverein, sie
ist auch wesentlich mehr als die mitgliedsstärkste Gesellschaft der Welt, sie
ist nicht mehr und nicht weniger als der mystische Leib Christi, Christus, wie
er heute leibhaftig in dieser Welt gegenwärtig ist. So kann man und muß man an
den Stellen, wo der Autor von der Kirche spricht, Jesus Christus einsetzen. Und
dann sagen diese Sätze, daß Christus Seinen Anspruch nicht in die natürliche
Ordnung von Staat und Gesellschaft ausdehnen darf, daß Er hier keine Kompetenz
hat. Von einem liberalen Atheisten kann man eine solche Aussage erwarten. Bei
Uertz handelt es sich jedoch um einen katholischen Theologen. Daß diese Arbeit
große Anerkennung in der heutigen katholischen Kirche gefunden hat, versteht
sich von selbst.
In
den fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts glich sich der
christliche Personalismus mehr und mehr dem modernen Liberalismus an, bis er
von diesem kaum noch zu unterscheiden war. Der Unterschied bestand nur noch in
einem christlichen Überbau, der zur Begründung der Menschenrechte herangezogen
wurde. Die Naturrechtslehre des Personalismus versuchte streng zwischen
Offenbarung und natürlicher Ebene zu trennen, wie dies schon das
protestantische Naturrecht im achtzehnten Jahrhundert vorgemacht hatte, da man
den Ungläubigen ja nicht die Offenbarung zumuten konnte. Im Zentrum standen der
Individualismus und die Anerkennung individueller, vorstaatlicher Freiheitsrechte
und eine Vorstellung vom Gemeinwohl, dessen einzige Aufgabe im Schutz dieser
Rechte besteht. Im Zweiten Vatikanische Konzil schlugen sich dann diese Lehren
in verschiedenen Dokumenten nieder, besonders in Dignitatis humanae, wo das Menschenrecht auf Religionsfreiheit und
damit implizit das Recht auf Irrtum anerkannt wurde.
Selbst
Uertz bemerkt, daß das „personalethische Naturrecht“ praktisch vollständig von
allem genuin christlichen entleert ist und damit droht, konturlos mit dem
liberalen Menschrechtsdenken sich zu vermischen, wenn er schreibt: „Es liegt
auf der Hand, daß ein personalistisch modifiziertes Naturrecht aufgrund seiner
Affinität zur liberalen Rechts- und Staatsphilosophie in der Gefahr steht, in
der politischen Philosophie aufzugehen oder zumindest Schwierigkeiten hat,
seine christliche Identität kenntlich
zu machen.“ (Uertz, 454).
Für
die Zukunft wird es eine zentrale Aufgabe der katholischen Soziallehre sein,
wieder zu den Fundamenten der Überlieferung zurückzukehren und im Ausgang von
einer gesunden Philosophie und Theologie, die sich den Gefahren des
Nominalismus in vollem Umfang und in all seinen Auswirkungen bewußt ist, die
moderne Welt zu verstehen, ohne ihr zu verfallen. Ein distanzierter Blick auf
die Gegenwart, der sich nicht mit offenen Armen dem Liberalismus unterwirft,
zeigt schon heute, daß selbst die christlich-liberalen Ideen überholt sind, und
daß diese nicht in der Lage sind, gegen die neuen totalitären Herausforderungen
des Relativismus, wie Gender
Mainstreaming, Gleichstellung homosexueller Partnerschaften mit der Ehe,
Abtreibung und andere zu „Menschenrechten“ erhobene Ideologien, sowie
Islamisierung oder die Auflösung persönlicher Verantwortung, Widerstand zu
leisten. Die Kirche ist zwar in dieser Welt, aber nicht von dieser Welt. Und
„die Gestalt dieser Welt vergeht“ (1 Kor. 7,31).
Literatur:
Hoeres, Walter (1969) Kritik der
transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie,
Stuttgart
(Kohlhammer).
Hoeres, Walter (2001) Wesenseinsicht und Transzendentalphilosophie,
Siegburg
(Questiones
Non Disputatae) [gekürzte und überarbeitete Fassung des zuvor
genannten
Textes).
Uertz,
Rudolf (2005) Vom Gottesrecht zum Menschenrecht. Das katholische Staatsdenken
in Deutschland von der Französischen
Revolution bis zum II. Vatikanischen Konzil (1789 – 1965), Paderborn (Ferdinand Schöningh Verlag)
Utz,
Arthur-Fridolin (1958) Sozialethik. 1. Teil: Die Prinzipien der Gesellschaftslehre,
Sammlung
Politeia, Heidelberg, Löwen (Verlag F.H. Kehrle, Verlag E. Nauwelaerts)
Welty,
Eberhard (1951) Herders Sozialkatechismus, Band 1, Freiburg (Herder Verlag)
Quelle: Rafael Hüntelmann: Personalismus
und Gemeinwohl; Kirchliche Umschau, Jg. 12, Nt. 10/2009.
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