Dienstag, 26. März 2024

Personalismus und Gemeinwohl

 


Der folgende Artikel erschien erstmals 2009 in der katholischen Monatszeitschrift Kirchliche Umschau. Wegen seiner Aktualität und der kritischen Betrachtung des Personalismus lohnt sich eine Veröffentlichung im Blog.

Die moderne liberalistische Gesellschaft ist völlig unfähig ein allgemeines sittliches Gesamtbewußtsein hervorzubringen, wie es vor allem im Mittelalter, aber auch noch einige Jahrhunderte später in fast allen europäischen Ländern zu finden war. Die liberale Gesellschaft wird beherrscht von Interessengruppen und Parteien, die ihre eigenen Bedürfnisse und Weltanschauungen gegen andere durchzusetzen versuchen. Wenn es in einer solchen liberalistischen Gesellschaft einer Gruppe oder Partei ermöglicht würde, ihre Interessen und Anschauungen durchzusetzen, dann wäre das Gemeinwohl als Ziel der Gesellschaft sofort zerstört. Denn das Gemeinwohl ist das Wohl der ganzen Gemeinschaft, des gesamten Staates und setzt ein sittliches Gesamtbewußtsein voraus. Da aber ein Gesamtbewußtsein der Gesellschaft fehlt und nur Parteien gegeneinander antreten, muß in einer liberalistischen Gesellschaft das Gemeinwohl in anderer Weise verwirklicht werden als in einer Gesellschaft, die ein sittliches Gesamtbewußtsein hervorgebracht hat.

 


Dies bedeutet aber sicherlich nicht, daß das von der überlieferten katholischen Soziallehre verteidigte Ideal eines göttlichen ethischen Gemeinwohls aufgegeben werden sollte, sondern nur, daß man in der gegenwärtigen Gesellschaft vom strengsten rechtlichen Gesichtspunkt, dem der Verkehrsgerechtigkeit, auszugehen hat, nach dem man den einzelnen Menschen in seiner Freiheit zu belassen hat und ihn erst im Hinblick auf das bedrohte Gemeinwohl beschränken muß. Dies führt zu dem pragmatischen Grundsatz, der allerdings nur für die gegenwärtige Situation gelten kann und bereits von verschiedenen Sozialethikern und Papst Pius XII. in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts vertreten wurde: So viel Freiheit wie möglich, soviel Autorität wie notwendig.

 

Dieser Grundsatz, dies muß mit aller Deutlichkeit verstanden werden, erwächst aus der erfahrungsmäßigen und praktischen Erkenntnis, die weder etwas mit Theologie zu tun hat noch aus dem Wesen des Menschen folgt, daß der Mensch in der gegenwärtigen konkreten geistigen Verfassung, in der ein sittliches Gesamtbewußtsein fehlt, ein echtes Gemeinwohl im christlichen und naturrechtlichen Sinne nicht verwirklichen kann.

 

Geht man hingegen von dem Grundsatz: „So viel Freiheit wie möglich, soviel Autorität wie notwendig“ als Prinzip der Sozialethik aus, dann setzt man die individuelle Freiheit als das höchste Gut des Menschen. Diese falsche Lehre ist die des Liberalismus, der durch den christlichen Personalismus seit den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts in die katholische Kirche und Soziallehre eingedrungen ist. Der Personalismus ist eine falsche Lehre, über die der Protestantismus und der aus ihm folgende Liberalismus Eingang in die katholische Kirche gefunden hat und im Zweiten Vatikanische Konzil und danach zur vorherrschenden Lehre wurde. Diese Zusammenhänge sind bisher kaum untersucht worden (zur Kritik des Personalismus vgl. W. Hoeres 1969, 2001). Der folgende Aufsatz will dazu einen kleinen Beitrag leisten, der durch weitere Studien untermauert werden muß.

 

Bei aller Verschiedenheit der personalistischen Theorien steht im Mittelpunkt dieser Lehre die Überzeugung, daß der Mensch sich wesentlich durch die Fähigkeit zu freier Entscheidung und Verantwortlichkeit für sein Handeln auszeichnet und daß diese strukturelle Freiheit einen unveräußerlichen, höchsten Wert und Selbstzweck darstellt. Schon mit diesem Ansatz ist der Personalismus in direkter Nähe zum Liberalismus. Im Unterschied zum Liberalismus sieht der Personalismus christlicher Prägung den Menschen in seiner Beziehung zu Gott, wobei er diese Beziehung als die ursprünglichste und fundamentalste Beziehung des Menschen überhaupt versteht. Doch wie Arthur-Fridolin Utz (1958 325ff.) gezeigt hat, liegt gerade hier ein logischer Widerspruch im Ansatz des Personalismus. Denn der Personalismus akzeptiert die Autorität nur in einem negativen Sinne als Begrenzung der Freiheit, wie sie im Prinzip „So viel Freiheit wie möglich, soviel Autorität wie notwendig“ zum Ausdruck kommt. Doch gerade, wenn die grundlegende Beziehung des Menschen zu Gott das Fundament des Personalismus sein soll, steht eine negative Bestimmung der Autorität dazu im Widerspruch. „Jedenfalls wird das Endgericht, das nicht nur den einzelnen, sondern auch die Gesellschaft als Ganzes autoritativ richtet, in folgerichtiger Fortsetzung des autoritativen Charakters jeder sittlichen Organisation vor sich gehen. Dort wird auch nicht mehr nach dem hier geltenden Menschenrecht auf Religionsfreiheit gefragt. Eine Autorität, die den sittlichen und religiösen Charakter der menschlichen Person und damit auch der in der Menschheit als Ganzem gesellschaftlich verbundenen Personen wahrt und in ihren Grenzen und Anordnungen die sittliche und religiöse Vollkommenheit der Menschen garantiert, kann nur als ein Vorteil und ein willkommenes Glück bezeichnet werden. In dem Sinne ist das Christentum froh um die Gesetze Christi und möchte keines von ihnen missen. Im selben Geist unterwirft sich der Christ der unfehlbaren Autorität, heißt er jede autoritative Wegweisung willkommen, weil sie ihn vor Unsicherheit bewahrt. Wäre nicht im Wesen der sittlichen Gesellschaft die Unterordnung unter die Autorität beschlossen, wir kämen niemals zu einer sittlichen und religiösen Auffassung des Gehorsams, wie sie z.B. Paulus im Römerbrief ausgesprochen hat und wie sie in allen christlichen Jahrhunderten, besonders auch von Leo XII. betont worden ist.“ (Ibid 325)

 

Auf der Grundlage des richtig verstandenen Naturrechts ist die Autorität eine wesentliche Bestimmung der menschlichen Gesellschaft und nicht nur ein bloß notwendiges Instrument zur Beschränkung der menschlichen Willkür. Jede rechtliche Organisation einer Gesellschaft beruht auf Gesetzen und jedes Gesetz setzt eine Autorität voraus. Wenn nun allerdings eine konkret gegebene Autorität aufhört in der Ausübung ihrer Autorität ein Garant der sittlich-religiösen Orientierung zu sein, dann schwindet auch die Befürwortung einer weitgehenden Autorität. Unsere moderne liberalistische Gesellschaft befindet sich nun genau in dieser Situation. Sie weist eine wegweisende sittlich-religiöse Orientierung nicht auf und ist in diesem Sinne keine Autorität. Grundsätzlich gilt zunächst, daß keine menschliche Autorität unfehlbar ist und insofern nicht dazu berufen ist, ihre eigenen Auffassungen allen gesellschaftlichen Gliedern aufzuzwingen, solange diese gesellschaftlichen Glieder ihre Freiheit in sittlicher Verantwortung gebrauchen und zum Gemeinwohl beitragen. Die heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse sind zudem so, daß die Gesellschaft in sich „nicht einmal mehr eine geschlossene Weltanschauung und Gewissensbildung“ besitzt, „so dass die von ihr bestellte Autorität von vornherein nicht der erste Wegweiser sein kann.“ (Ibid 326) Deshalb ist in dieser heutigen Situation die Beschränkung der Macht und Autorität des Staates bzw. der staatlichen Organe eine richtige praktische Forderung, wie sie in dem Grundsatz: „So viel Freiheit wie möglich, soviel Autorität wie notwendig“ zum Ausdruck kommt.

 

Der Personalismus hat diesen pragmatischen Grundsatz für unsere Zeit allerdings zu einem allgemeinen theoretischen Prinzip erhoben und leugnet damit das positive Wesen der Autorität. Der für den christlichen Personalismus wohl wichtigste Vertreter ist der französische Philosoph Jacques Maritain, dessen „integraler Humanismus“ großen Einfluß auf katholische Philosophen und Theologen gewonnen hat und in wichtigen Dokumenten des Zweiten Vatikanische Konzils Eingang gefunden hat. Weitere bekannte Vertreter des christlich geprägten Personalismus sind Gabriel Marcel, Romano Guardini, Max Scheler oder auch Karol Wojtyla, der spätere Papst Johannes Paul II. Der Personalismus steht in enger Beziehung zur sogenannten Lebensphilosophie des frühen 20. Jahrhunderts – Maritain war Schüler des bekanntesten Lebensphilosophen Henri Bergson – und zum Existentialismus.

Sozialphilosophisch ist der Personalismus vor allem dadurch gekennzeichnet, daß er von der individuellen Person ausgeht, die in ihrer Beziehung mit anderen Personen die Gesellschaft konstituiert. Auch in dieser Hinsicht weist der Personalismus eine Nähe zum Liberalismus auf, der die Gesellschaft als durch einen Vertrag zwischen Individuen konstituiert betrachtet, also als etwas sekundäres und nicht zum Wesen des Menschen Gehörendes. Der Personalismus versteht die Gesellschaft als durch die Relationen der Menschen zueinander konstituiert, wobei er allerdings, im Unterschied zum Liberalismus, diese Relationen als wesentlich zum Menschsein gehörend versteht. Gleichwohl bleibt der Ausgangspunkt der Gesellschaft, wie beim Individualismus, die vielen Einzelnen. Die klassische katholische Sozialethik geht hingegen vom Ganzen aus und unterscheidet sich gerade dadurch von der Individualethik, die die persönlichen Tugenden betrachtet. Die neuscholastische Sozialethik ist der Auffassung, daß die Gesellschaft etwas Eigenes ist und mehr als die Summe der Teile, der Personen, die zur Gesellschaft gehören. So bildet das Gemeinwohl das oberste Prinzip der thomistischen Sozialethik, dem die Glieder der Gemeinschaft, die Personen, als ihrem Ziel dienen sollen. A.-F. Utz definiert das Gemeinwohl denn auch als „Äußere Güter oder Werte, sofern sie Ziel von Handlungen vieler sind, innerhalb deren der Einzelne mit seiner Handlung Teilfunktion ausübt.“ (Ibid 132). Das Gemeinwohl stellt einen eigenen Wert da, obwohl er nur durch die Einzelnen verwirklicht wird. Er ist nicht bloß die Summe der Einzelwohle, sondern von diesen verschieden.

 

Hier zeigt sich nun ein deutlicher Unterschied zum Personalismus, der sich unberechtigterweise auch auf Thomas von Aquin beruft. Die Gesellschaft steht nach Auffassung des Personalismus vor allem in Dienst der Person, sie soll der Entfaltung seiner Persönlichkeit dienen. Anders die überlieferte Sozialethik, nach der der Einzelne dem Gemeinwohl zu dienen hat, was freilich keineswegs ausschließt, daß dies auch der Entfaltung seiner Persönlichkeit zugutekommt. Der Staat ist nach personalistischer Auffassung der Zweck der menschlichen Person, eine Institution, die das Individuum ergänzt und so die Person unterstützt und fördert. Das Gemeinwohl steht entsprechend im Dienst des Einzelnen, ist reiner „Dienstwert zugunsten der Einzelmenschen“ (Ibid 318).

 

Nun ist diese Auffassung nicht grundsätzlich falsch, zumal auch Papst Pius XII. sie in zahlreichen Ansprachen wiederholt hat, indem er zum Beispiel darauf hinwies, daß der Mensch vor dem Staat da ist und der Mensch nicht dem Staat zu dienen hat, sondern umgekehrt, der Staat für den Menschen da ist. Doch dies ist keineswegs vor dem Hintergrund eines radikalen Individualismus gesagt, für den der Staat nur ein Selbstbedienungsladen zur Verwirklichung der eigenen Bedürfnisse ist. Der Staat dient dem Menschen insofern, als er dazu beiträgt, daß persönliche Ziel des Menschen zu erreichen. Dieses persönliche Ziel jedes Menschen ist zunächst die irdische Wohlfahrt, das persönliche Einzelwohl, das wiederum dem ewigen Ziel des Menschen, der Anschauung Gottes, untergeordnet ist. So kann es nicht die Aufgabe des Staates sein, die Kirche in ihrer Tätigkeit zu behindern, oder Gesetze zu erlassen, die es dem Menschen erschweren, sein ewiges Ziel zu erreichen, wenn diese Gesetze auch seiner persönlichen kurzfristigen Befriedigung angenehm sein sollten.

 

Während die klassische Sozialethik gewissermaßen das Ideal des Einklangs von Gemeinwohl und Einzelwohl in den Mittelpunkt gestellt hat und damit die innere Verbundenheit von Person und Staat betont, findet sich beim Personalismus eine Gegenüberstellung von Mensch und Staat. Hierfür verwendet der Sozialethiker Oskar von Nell-Breuning den Begriff der „Contradistinctio“. Auch hier liegt der Fehler nicht so sehr in der durchaus richtigen Unterscheidung von Person und Gesellschaft, Einzelnem und Staat, sondern darin, daß diese Unterscheidung zum Ausgangspunkt der gesamten Betrachtung gemacht wird.

 

Aus dem bereits gesagten folgt ein neues Verständnis vom Wohl der Gemeinschaft, das nach personalistischer Auffassung nur in der richtigen Organisation der persönlichen Freiheit besteht. Das Gemeinwohl besteht, anders gesagt, darin, daß alle Institutionen den Gemeinschaftsgliedern dazu verhelfen sollen, ihre eigenen Kräfte anzuregen und zu höchsten Entfaltung der Persönlichkeit zu führen, zur vollen Entfaltung der Freiheit in Verantwortung. Man erkennt auch hier die Nähe zum liberalen Individualismus, obgleich dieser sich doch vom Personalismus unterscheidet. Aus diesem Ansatz ergibt sich auch das Aufbauprinzip der personalistischen Gesellschaft: „So viel Freiheit wie möglich, soviel Autorität wie nötig“. Deshalb ist die Autorität kein wesensmäßig notwendiges Aufbauprinzip der Gesellschaft, sondern nur eine conditio sine qua non. Das Problem dieser Lehre besteht nicht darin, daß sie ein solches Prinzip für unsere moderne gesellschaftliche Situation vertritt, sondern daß sie dies als grundsätzliches theoretisches Prinzip der Gesellschaft vertritt. Wie gesagt ist dieses Prinzip von einem pragmatischen Gesichtspunkt angesichts der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse durchaus akzeptabel und wurde deshalb auch von Papst Pius XII. vertreten. Es darf aber nicht zu einem allgemeinen Prinzip der Gesellschaftslehre erhoben werden.

 

Eine weitere Folge des Personalismus ist das, was im Begriff der sozialen Gerechtigkeit zusammengefaßt wird. Soziale Gerechtigkeit im Sinne des Personalismus ist die Tugend, die den einzelnen Menschen in seiner freien Entfaltung in Hinordnung auf das Gemeinwohl koordiniert. Diese Auffassung der sozialen Gerechtigkeit geht auf den italienischen Jesuiten und Sozialethiker des 19. Jahrhunderts Taparelli zurück. Bei Taparelli findet sich erstmals gewissermaßen eine Umstellung der Blickrichtung in der Bestimmung der sozialen Gerechtigkeit, bzw. der Gemeinwohlgerechtigkeit. Nach der Lehre des hl. Thomas ist die soziale Gerechtigkeit eine Tugend, die darin besteht, daß der einzelne Mensch bereitwillig die Teilfunktion innerhalb der ganzen menschlichen Gemeinschaft, zu der er gehört, übernimmt. Hier erfolgt die Bestimmung der Gerechtigkeit im Ausgang vom Ganzen, der Gesellschaft, bzw. dem gesellschaftlichen Gemeinwohl zum Einzelnen. Taparelli nimmt den Ausgangspunkt von der individuellen Person und bestimmt von ihr aus das Gemeinwohl. So heißt es bei ihm: „Die Handlungen des Menschen werden also gerecht sein, wenn sie den verschiedenen individuellen Rechten seiner Mitmenschen angepaßt sind“. Dies hört sich bereits sehr individualistisch an, besonders wenn man hier von „individuellen Rechten“ liest und so wird Taparelli denn heute auch von zahlreichen liberal-katholischen Sozialethikern als Vorläufer betrachtet, was allerdings nicht zutreffend ist. Dies wird deutlich, wenn man bei ihm liest, daß bei einem Konflikt zweier verschiedener Rechte dasjenige Recht den Vorzug hat, daß allgemeiner ist, d.h. die Gesamtordnung betrifft: „Das Recht ist ein aus der Ordnung entspringendes, vernunftmäßiges Vermögen, also ist es um so stärker, je allgemeiner die Ordnung, je wichtiger die Materie und je überzeugender die Gründe sind“. Einen solchen Satz wird man bei unseren liberalen Sozialethikern zweifellos nicht finden. Taparelli betont sogar, daß das „Sozialrecht dem Rechte der einzelnen“ und „das öffentliche dem Privatrechte“ vorzuziehen ist. Allerdings kann man Taparelli in gewisser Hinsicht dennoch als Vorläufer der modernen Auffassung und des Personalismus verstehen, da er vom Einzelnen und seinen individuellen Rechten ausgeht und diese dann in eine Ordnung des Zusammenlebens mit den anderen bringt. Damit wird die Frage nach der Verwirklichung des Gemeinwohls in den Mittelpunkt gerückt und diese geschieht natürlich über die persönlichen Handlungen der einzelnen. Das Gemeinwohl wird so als Ergebnis von Einzelhandlungen verstanden.

 

Nach der überlieferten Auffassung, insbesondere des hl. Thomas, ist das Gemeinwohl eine allgemeine Entität, ein Universale, wie die Philosophen sagen. Die Nominalisten bestreiten, daß es allgemeine Entitäten, Universalien, gibt. Für sie existiert nur das Individuelle und alle Allgemeinheiten sind bloße Namen (nomen; daher die Bezeichnung Nominalismus für diese im Spätmittelalter entstehende philosophische Richtung). Der Nominalist kann folglich ein an sich bestehendes Gemeinwohl nicht anerkennen und erklärt dieses durch die Verwirklichung von Individuen. Freilich behauptet auch der Realist nicht, daß das Gemeinwohl in einem platonischen Ideenhimmel an sich besteht, sondern nur durch und in den Handlungen der Menschen, doch ist es dennoch nicht bloß das Ergebnis dieser Handlungen. Hier zeigt sich, welche Bedeutung philosophische Auffassungen, die für den Laien nicht selten nach Gedankenspiele im Elfenbeinturm aussehen, für das praktische Leben und die geschichtliche Entwicklung haben. Der Nominalismus ist die philosophische Grundlage des Protestantismus, des Liberalismus und Sozialismus und der gesamten Entwicklung seit dem Zweiten Vatikanische Konzil. Solange die Kirche den Nominalismus in seine Schranken gewiesen hat, wie dies zuletzt vor allem in der Neuscholastik der Fall war, konnte sie die modernen Theorien zurückweisen. Nachdem zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Neuscholastik und der Einfluß der Philosophie des hl. Thomas immer mehr an Bedeutung verlor und moderne Philosophien wie der Idealismus, die Phänomenologie, die Lebensphilosophie und der Existentialismus, die in ihrer ontologischen Grundlage alle nominalistisch sind, auf positives Interesse bei katholischen Theologen stieß, gewann der Nominalismus immer stärkeren Einfluß in der katholischen Theologie und schließlich auf die kirchliche Lehre. Der Kampf des katholischen Lehramtes gegen den Liberalismus und den Modernismus im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist in philosophischer Hinsicht ein Kampf zwischen Nominalismus und Realismus.

 

Doch kehren wir zurück zum Personalismus, der in seiner gesamten ontologischen Grundlage vom Nominalismus bestimmt ist und durch den die neuen Ideen der liberalen Menschenrechte, der Religionsfreiheit und das neue Staatsverständnis Eingang in die kirchliche Lehre gefunden haben. Der Personalismus war schon früh darum bemüht, die modernen liberalen Vorstellungen des Staates und die Idee individueller, vorstaatlicher Rechte mit der kirchlichen Soziallehre und dem christlichen Naturrechtsverständnis in Einklang zu bringen. Das dies grundsätzlich unmöglich ist, da beide Lehren auf nahezu entgegengesetzten Prinzipien beruhen, wie Pius IX im Syllabus dargelegt hat und wie es in der Enzyklika Pascendi Dominici Gregis Pius’ X. in aller Klarheit herausgestellt wird, wurde ignoriert. Während die streng am hl. Thomas orientierte dominikanische Schule die Gefahren des Personalismus im allgemeinen klar erkannte und noch bis zum Ende der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts kritisierte (vgl. Utz, Welty), zeigten einige Jesuiten durchaus Sympathien, zumal der Personalismus eines Maritain zutiefst christliche Gedanken enthält und sich durchgängig auf Thomas von Aquin beruft.

 

Die zentrale Rolle des Personalismus für die Anerkennung der modernen Ideen des Liberalismus durch die Kirche im Zweite Vatikanische Konzil stellt Rudolf Uertz in seiner Habilitationsschrift „Vom Gottesrecht zum Menschenrecht. Das katholische Staatsdenken in Deutschland von der französischen Revolution bis zum II. Vatikanischen Konzil“ heraus. Uertz macht deutlich – und hier ist ihm zuzustimmen – daß die neue Lehre bezüglich des Staatsdenkens, der Menschenrechte und der Religionsfreiheit einen klaren Bruch mit der gesamten katholischen Lehrtradition darstellt, und sein Werk stellt eine Rechfertigung dieses Bruchs dar. Das Kapitel „Die Durchsetzung des christlichen Personalismus“ beginnt mit den folgenden Worten, die gewissermaßen das ganze Programm des Buches darstellen: „Daß der pluralistisch-demokratische Rechts- und Verfassungsstaat und das dazugehörige Parteiensystem bloßer „Behelf“ oder „Versuch“ sei, ist eine Aussage, die in dieser Form nicht ethisch, sondern theologisch abgestützt ist. Der kirchlich-doktrinäre Absolutheitsanspruch hat jedoch ausschließlich im christlichen Glauben und Offenbarungsdenken seinen Platz, ihn auf die natürliche Ordnung von Staat und Gesellschaft auszudehnen, besitzen Kirche und Theologie keine Kompetenz“ (439f.). Klarer kann man es kaum sagen! Wollte jemand die Auffassung des „katholischen“ Liberalismus in einem Satz zusammenfassen, so findet er ihn in dieser ungeheuerlichen Aussage. Die Kirche soll sich auf die Sakristei begrenzen und den Staat sich selbst überlassen, der schon auch ohne Kirche in der Lage ist, selbst zu entscheiden und festzulegen, was für ihn moralisch richtig ist. Trennung von Staat und Kirche! Die Kirche ist nicht irgendein Kegelverein, sie ist auch wesentlich mehr als die mitgliedsstärkste Gesellschaft der Welt, sie ist nicht mehr und nicht weniger als der mystische Leib Christi, Christus, wie er heute leibhaftig in dieser Welt gegenwärtig ist. So kann man und muß man an den Stellen, wo der Autor von der Kirche spricht, Jesus Christus einsetzen. Und dann sagen diese Sätze, daß Christus Seinen Anspruch nicht in die natürliche Ordnung von Staat und Gesellschaft ausdehnen darf, daß Er hier keine Kompetenz hat. Von einem liberalen Atheisten kann man eine solche Aussage erwarten. Bei Uertz handelt es sich jedoch um einen katholischen Theologen. Daß diese Arbeit große Anerkennung in der heutigen katholischen Kirche gefunden hat, versteht sich von selbst.

 

In den fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts glich sich der christliche Personalismus mehr und mehr dem modernen Liberalismus an, bis er von diesem kaum noch zu unterscheiden war. Der Unterschied bestand nur noch in einem christlichen Überbau, der zur Begründung der Menschenrechte herangezogen wurde. Die Naturrechtslehre des Personalismus versuchte streng zwischen Offenbarung und natürlicher Ebene zu trennen, wie dies schon das protestantische Naturrecht im achtzehnten Jahrhundert vorgemacht hatte, da man den Ungläubigen ja nicht die Offenbarung zumuten konnte. Im Zentrum standen der Individualismus und die Anerkennung individueller, vorstaatlicher Freiheitsrechte und eine Vorstellung vom Gemeinwohl, dessen einzige Aufgabe im Schutz dieser Rechte besteht. Im Zweiten Vatikanische Konzil schlugen sich dann diese Lehren in verschiedenen Dokumenten nieder, besonders in Dignitatis humanae, wo das Menschenrecht auf Religionsfreiheit und damit implizit das Recht auf Irrtum anerkannt wurde.

 

Selbst Uertz bemerkt, daß das „personalethische Naturrecht“ praktisch vollständig von allem genuin christlichen entleert ist und damit droht, konturlos mit dem liberalen Menschrechtsdenken sich zu vermischen, wenn er schreibt: „Es liegt auf der Hand, daß ein personalistisch modifiziertes Naturrecht aufgrund seiner Affinität zur liberalen Rechts- und Staatsphilosophie in der Gefahr steht, in der politischen Philosophie aufzugehen oder zumindest Schwierigkeiten hat, seine christliche Identität kenntlich zu machen.“ (Uertz, 454).

 

Für die Zukunft wird es eine zentrale Aufgabe der katholischen Soziallehre sein, wieder zu den Fundamenten der Überlieferung zurückzukehren und im Ausgang von einer gesunden Philosophie und Theologie, die sich den Gefahren des Nominalismus in vollem Umfang und in all seinen Auswirkungen bewußt ist, die moderne Welt zu verstehen, ohne ihr zu verfallen. Ein distanzierter Blick auf die Gegenwart, der sich nicht mit offenen Armen dem Liberalismus unterwirft, zeigt schon heute, daß selbst die christlich-liberalen Ideen überholt sind, und daß diese nicht in der Lage sind, gegen die neuen totalitären Herausforderungen des Relativismus, wie Gender Mainstreaming, Gleichstellung homosexueller Partnerschaften mit der Ehe, Abtreibung und andere zu „Menschenrechten“ erhobene Ideologien, sowie Islamisierung oder die Auflösung persönlicher Verantwortung, Widerstand zu leisten. Die Kirche ist zwar in dieser Welt, aber nicht von dieser Welt. Und „die Gestalt dieser Welt vergeht“ (1 Kor. 7,31).

 

Literatur:

 

Hoeres, Walter (1969) Kritik der transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie,

Stuttgart (Kohlhammer).

Hoeres, Walter (2001) Wesenseinsicht und Transzendentalphilosophie, Siegburg

            (Questiones Non Disputatae) [gekürzte und überarbeitete Fassung des zuvor

            genannten Textes).

Uertz, Rudolf (2005) Vom Gottesrecht zum Menschenrecht. Das katholische Staatsdenken

in Deutschland von der Französischen Revolution bis zum II. Vatikanischen Konzil (1789 – 1965), Paderborn (Ferdinand Schöningh Verlag)

Utz, Arthur-Fridolin (1958) Sozialethik. 1. Teil: Die Prinzipien der Gesellschaftslehre,

Sammlung Politeia, Heidelberg, Löwen (Verlag F.H. Kehrle, Verlag E. Nauwelaerts)

Welty, Eberhard (1951) Herders Sozialkatechismus, Band 1, Freiburg (Herder Verlag)

 

 

Quelle: Rafael Hüntelmann: Personalismus und Gemeinwohl; Kirchliche Umschau, Jg. 12, Nt. 10/2009.

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