Donnerstag, 18. September 2014

Nichts ist ohne Grund



Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in Ihrem Zimmer und lesen im Internet und plötzlich hören Sie ein seltsames Rascheln im Nebenraum, obwohl niemand dort ist. Sie fragen sich: Was ist der Grund dieses Raschelns? Dies ist eine völlig natürliche und selbstverständliche Reaktion. Philosophen haben daraus ein Prinzip gemacht, das als „Satz vom Grund“ bezeichnet wird. Es gibt verschiedene Formulierungen des Prinzips und das Alter dieses Prinzips wird von einigen Philosophen bis zu dem Vorsokratiker Parmenides zurück geführt. Am bekanntesten ist die Formulierung von Leibniz, für den dieses Prinzips nach dem Nichtwiderspruchsprinzips das wichtigste aller Prinzipien ist. In einem seiner Hauptwerke, der Theodizee, formuliert Leibniz das Prinzip mit den Worten: „nichts geschieht, ohne dass es eine Ursache oder wenigstens einen bestimmenden Grund gibt, d. h. etwas, das dazu dienen kann, a priori zu begründen, weshalb etwas eher existiert als nicht existiert und weshalb etwas gerade so als in einer anderen Weise existiert.“ Scholastische Philosophen haben dieses Prinzip auch zur Begründung des Kausalprinzips verwendet, allerdings mit einem anderen Verständnis als Leibniz und der Rationalismus.



Nach dem großen französischen Neuscholastiker Garrigou-Lagrange besagt das Prinzip vom zureichenden Grund, wie es auch genannt wird, dass alles intelligibel ist, dass alles erkennbar ist (wenn auch nur begrenzt) und dass es einen zureichenden Grund gibt oder eine angemessene, objektive Erklärung für alles was existiert und für alle Attribute von jeglichem Seienden. Diese Formulierung ist mehr erkenntnistheoretisch formuliert, doch wird auf der Grundlage dieses Prinzips das Kausalprinzip begründet. Wäre das Kausalprinzip (Aktualisierung einer Potenz) falsch, so das Argument, dann könnte eine Veränderung oder die Entstehung von etwas, was bisher nicht existierte, ohne Ursache sein. Dann allerdings wäre ein solches Phänomen nicht erkennbar, nicht intelligibel; es hätte keinen zureichenden Grund und keine angemessene Erklärung. Das Rascheln im Ihrem Nebenraum hätte schlicht keinen Grund. Sie könnten es sich deshalb auch gleich ersparen, nachzusehen, warum es geraschelt hat. Wenn daher das Prinzip vom zureichenden Grund (PZG) wahr ist, dann ist auch das Kausalprinzip (KP) wahr, denn KP ist nur eine Anwendung von PZG.

Für die scholastische Philosophie ist das aber nicht so einfach hinnehmbar. Es gibt zwei Fragen: Erstens: können aristotelisch-scholastische Philosophen das PZG anwenden? Zweitens: ist das PZG wahr?

Warum diese Fragen? Einige neuscholastische Philosophen in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, z.T. auch schon vorher, haben davor gewarnt, dass PZG, das einen rationalistischen Ursprung hat, unkritisch zu übernehmen. Besonders Etienne Gilson hat sich hier hervorgetan und kritisiert neuscholastische Philosophen dahingehend, dass sie oft allzu leicht dem „Essentialismus“ des Rationalismus auf den Leim gegangen sind, dem er, Gilson, einen thomistischen „Existentialismus“ entgegenstellt. Die Begriffe „Essentialismus“ und „Existentialismus“ haben bei Gilson allerdings eine deutlich von der gewöhnlichen Begriffsverwendung verschiedene Bedeutung. Mit seiner Kritik am „Essentialismus“ wendet sich Gilson gegen den Rationalismus, der allein aus Begriffen die Wirklichkeit konstruiert, wobei der Rationalist der Auffassung ist, dass alle Begriffe gewissermaßen in den menschlichen Geist „eingegossen“ sind und die empirische Erkenntnis nicht zu wahrem Wissen und Erkennen beitragen kann. Gegen eine solche Erkenntnistheorie wenden sich der Aristoteliker und der Scholastiker mit Entschiedenheit. Allerdings, und hier übertreibt Gilson wohl etwas, bedeutet die Anerkennung des PZG nicht automatisch auch die Anerkennung des Rationalismus oder der rationalistischen Voraussetzungen der Erkenntnistheorie. Jacques Martain, einer der bedeutendsten Neuscholastiker im 20. Jahrhundert, hat deshalb auch dafür argumentiert, dass man das PZG so formuliert durchaus akzeptieren kann: „alles was ist, hat das, wodurch es ist“. In dieser Formulierung fehlt die explizit erkenntnistheoretische Ausrichtung des PZG.

Allerdings muss auch eine Formulierung des PZG, die Bezug nimmt auf die Erkennbarkeit, nicht unbedingt von der Scholastik zurückgewiesen werden. Der Grund dafür liegt in der thomistischen Theorie der „Transzendentalien“ die besagt, dass Sein und Wahrheit „austauschbar“ sind. D.h., dass etwas, das existiert, auch wahr ist und deshalb auch erkennbar ist. Diese Art der Wahrheit („transzendentale“ oder ontologische Wahrheit der Dinge) ist die Voraussetzung ihrer Erkennbarkeit. Es wäre zu kompliziert, diesen Zusammenhang hier weiter zu erläutern. Dazu kann man z.B. den Grundkurs Philosophie II: Metaphysik, empfehlen. Zumindest implizit ist jedenfalls eine bestimmte Version des PZG in der thomistischen Philosophie enthalten.

Allerdings, und dies muss besonders betont werden, unterscheidet sich das rationalistische Verständnis des PZG deutlich von dem Verständnis der Scholastiker. Dies kann man anhand eines Einwandes gegen das PZG demonstrieren, der auf das rationalistische, nicht jedoch auf das scholastische Verständnis zutrifft. Das Argument gegen das PZG lautet folgendermaßen: Stellen Sie sich einen Satz, bzw. eine Proposition vor, die eine Konjunktion aller wahren und kontingenten Sätze ist. Dies wäre eine Proposition, die die gesamte Welt vollständig beschreiben würde. Da nun alle Sätze dieses gewaltigen konjunktiven Satzes kontingent, also nicht notwendig sind, muss auch der ganze Satz kontingent sein. Deshalb kann die Erklärung dieser gewaltigen Proposition keine notwendige Proposition sein, denn alles, was ein notwendiger Satz enthält, muss selbst notwendig sein. Aber, und dies ist nun der viel wichtigere Einwand, eine solche gewaltig große Proposition kann auch nicht kontingent sein. Denn wenn sie dies wäre, dann müsste diese große Proposition selbst ein Konjunkt unter anderen Sätzen in der gewaltigen konjunktiven Proposition sein. Dies würde aber bedeuten, dass die große konjunktive Proposition sich selbst erklärt. Das Prinzip vom zureichenden Grund behauptet aber gerade, dass keine kontingente Proposition sich selbst erklärt und dadurch kann der große Satz, der alle anderen kontingenten Sätze enthält, gar nichts erklären. Doch dann gibt es etwas, das keine Erklärung hat und damit ist das PZG widerlegt.

Für das scholastische Verständnis des PZG ist dies aber kein Einwand, weil das scholastische Verständnis nicht behauptet, dass Propositionen eine Erklärung bedürfen und zweitens, dass eine Erklärung kein logisches Enthaltensein erfordert.

Doch gibt es nun auch positive Argumente für das PZG? Es gibt solche Argumente und eins davon ist eine bestimmte Variante des empirischen Arguments für das Kausalprinzip, das wir hier übergehen (siehe Edward Feser: Scholastic Metaphysics, S. 142ff.) 

Weitere Argumente für das PZG beruhen auf dem Nachweis, dass die Zurückweisung dieses Prinzips einen radikalen Skeptizismus zur Folge hat, durch den jede rationale Untersuchung der Wirklichkeit unmöglich wird bzw. dass überhaupt jede Wahrnehmung fragwürdig wird.

Es gibt weiterhin Argumente für das PZG in der Weise, dass man zeigen kann, dass wissenschaftliche Forschung zumindest implizit das PZG voraussetzt. Diese Argumente gehen zurück auf Bertrand Russell und J. L. Mackie. Der Gedanke dabei ist, dass wir zumindest einige Phänomene mit Hilfe von Naturgesetzen erklären können. Diese Naturgesetze können wir wiederum auf Grund fundamentalerer Gesetze erklären und diese vielleicht durch noch grundlegendere Gesetze. Die fundamentalsten Gesetze wären aber nicht erklärbar, wenn das PZG ungültig wäre. Dass die Welt von diesen Gesetzen beherrscht wird, wäre nichts anderes als eine „nackte Tatsache“ ohne jede Erklärung.

So kann man sagen, dass das PZG nicht nur eine starke Unterstützung für das Kausalprinzip liefert, sondern auch eine starke Verteidigung gegen wissenschaftsbasierten Einwänden gegen das Kausalprinzip, wie wir sie von Seiten Russells oder auf der Grundlage von Newtons Trägheitsprinzip oder von Seiten der Quantenmechanik bereits kennengelernt haben.


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