Im Folgenden veröffentliche ich in mehreren Teilen ein Beitrag über die aktuellen Entwicklungen in der aristotelisch-thomistischen Philosophie, der kürzlich in einem Sonderheft der Zeitschrift „DIVINITAS. Rivista Internazionale di Ricerca e di Critica Teologica“ erscheinen ist. Der Beitrag passt sehr gut zu meinem Blog, da er die „Neue Scholastik im 21. Jahrhundert“ perfekt darstellt und zusammenfasst. Der Beitrag hat im Druck allerdings 16 Seiten, so dass ich ihn in verschiedene Teile aufteilen muss. Hier nun der erste Teil dieses Artikels.
ARISTOTELISCH-THOMISTISCHE PHILOSOPHIE IM 21. JAHRHUNDERT
Von Rafael Hüntelmann
Einleitung
Die Philosophie des Aristoteles hat in nahezu jedem
Jahrhundert der abendländischen Philosophiegeschichte eine Renaissance erlebt.
Ein Höhepunkt war die scholastische Philosophie des 13. Jahrhunderts, an deren
Spitze Thomas von Aquin steht. Die neuzeitliche Philosophie und bereits die
Philosophie der Renaissance verstand sich hingegen als radikal
antiaristotelisch, so dass die aristotelisch-scholastische Philosophie
weitgehend verdrängt wurde und eher im Hintergrund, weiterhin gefördert durch
die katholische Kirche, überlebte. Erst mit der Enzyklika Papst Leo XIII.
Aeterni patris gab es nicht nur einen enormen Aufschwung der scholastischen
Theologie, sondern auch der scho- lastischen Philosophie und des
Aristotelismus. In den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts waren
über die Hälfte der Beiträge in philosophischen Fachzeitschriften mit Aufsätzen
zur neuscholastischen Philosophie gefüllt. Diese fruchtbare und produktive
Phase der aristotelisch-thomistischen Philosophie endete mehr oder weniger abrupt
mit dem II. Vatikanum. Danach wurde es still, nicht nur um den Neuthomismus,
die Neuscholastik, sondern auch um die aristotelische Philosophie, die nur noch
von historischem Interesse waren.
Die Entwicklung der analytischen Philosophie
Andere Philosophien traten in den Mittelpunkt der Debatte,
in Deutschland vor allem die Phänomenologie und Martin Heidegger, in Frankreich
der Existenzialismus, der Strukturalismus und später die postmoderne
Philosophie, die alle Anleihen bei der Phänomenologie und Martin Heidegger
nahmen. Im angelsächsischen Raum hingegen entwickelte sich aus dem Positivismus
des 19. Jahrhunderts eine streng szientistische Philosophie in der Tradition
des Wiener Kreises. Die meisten dieser Philosophen waren Deutsche und
Österreicher, die unter der nationalsozialistischen Diktatur in die USA
immigrierten. Diese Philosophen verengten zunächst das Gebiet der Philosophie
auf Logik, Wissenschaftstheorie und Sprachanalyse. Aus diesem Ansatz
entwickelte sich dann etwa seit den 1950er Jahren das, was man seit längerem
als analytische Philosophie bezeichnet. Auch in der analytischen Philosophie
wurde der Widerspruch zwischen Empirismus und Rationalismus bewahrt, der die
gesamte neuzeitliche Philosophie kennzeichnet. Die Empiristen beschäftigten
sich vorwiegend mit Wissenschaftstheorie, während die Rationalisten das Gewicht
auf Begriffsanalyse legten. In beiden Richtungen der analytischen Philosophie
spielte allerdings immer die Frage der Bedeutung eine zentrale Rolle. Bei den
Bedeutungstheorien gab es ebenfalls wieder den Unterschied zwischen
Philosophen, die sich besonders mit der Bedeutung künstlicher, bzw. idealer
Sprachen (Logik) beschäftigten (Bertrand Russell) und andere, die vor allem
eine Bedeutungstheorie der Normalsprache (der spätere Wittgenstein)
entwickelten.
In der weiteren Entwicklung der analytischen Philosophie
seit den 1960er Jahren wurde die massive Verengung auf Logik,
Wissenschaftstheorie und Sprachphilosophie zunehmend aufgegeben und man wendete
sich auch klassischen philosophischen Fragestellungen zu. Hierzu gehört die
Ethik, die Philosophie des Geistes, seit den 1980er Jahren dann zunehmend
Metaphysik und Ontologie bis hin zur Sozialphilosophie, Religionsphilosophie
und Ästhetik. Heute gibt es kein einziges Gebiet der Philosophie, das nicht
auch von analytischen Philosophen thematisiert wird. Dies hat andererseits dazu
geführt, dass der Begriff „analytische Philosophie“ immer mehr entkernt und
ausgehöhlt wurde und heute praktisch kaum noch eine klar bestimmbare inhaltliche
Bedeutung besitzt. Allenfalls könnte man sagen, dass analytische Philosophen
großen Wert auf klare und eindeutige Aussagen legen, dass diese Aussagen in
einem logischen Kontext stehen sollten und mit Hilfe der Logik überprüfbar sein
sollten und dass sie Hermeneutik und Transzendentalphilosophie ablehnen. Das
aber gilt alles auch von scholastischen Philosophen und so gibt es Philosophen,
die tatsächlich die Auffassung vertreten, dass die moderne analytische
Philosophie eine Wiederbelebung der scholastischen Philosophie mit den Mitteln
der modernen Logik darstellt (Uwe Meixner 2020, 26 ff.). Ein Unterschied
zwischen Scholastik und analytischer Philosophie ist allerdings, dass die
übergroße Mehrheit der analytischen Philosophen zum Agnostizismus und Atheismus
neigen, was besonders für die empiristisch gesinnten Philosophen gilt.
Von der analytischen Philosophie zum analytischen Thomismus
Ein Geburtsfehler der analytischen Philosophie war ihre geringe Bezugnahme auf
die Philosophiegeschichte. Eine Auseinandersetzung mit historischen Positionen
der Philosophie fand mit wenigen Ausnahmen kaum statt. Ausnahmen sind kritische
Auseinandersetzungen mit einige Philosophien der englischen Tradition, vor
allem mit David Hume, aber Antike und Mittelalter, oder auch die
rationalistische Tradition der frühen Neuzeit spielten lange Zeit kaum eine
Rolle. Dies änderte sich erst, zumindest teilweise, in den 1960er Jahren, vor
allem auch durch den Einfluss kontinentaleuropäischer Philosophen in der
analytischen Philosophie, durch die rationalistische Philosophen wie René
Descartes, Leibniz und Bolzano wiederentdeckt wurden. Das Verdienst,
Aristoteles wieder in die Diskussion gebracht zu haben, kommt besonders der
englischen Philosophin und Wittgenstein-Schülerin Elisabeth Anscombe zu. Als
enge Schülerin und Mitarbeiterin Wittgensteins genoss Anscombe hohes Ansehen in
der analytischen Philosophie und konnte so einen nicht unerheblichen Einfluss
ausüben. In einem berühmten Aufsatz über Modern Moral Philosophy (1958) „wendete
sie sich gegen utilitaristische und kantische Begründungsformen normativer
Ethik, mit dem Ziel, das Feld für die Entwicklung tugendethischer Theorien des
Guten zu öffnen (M. Hähnel 2019). Sie widerlegte den seit langem als
selbstverständlich geltenden sogenannten „Sein-Sollens-Fehlschluss“, der auf
David Hume zurückgeht, nach dem es nicht möglich sein soll, vom Sein auf ein
Sollen zu schließen, und sie versuchte, eine objektive Grundlage der Ethik auf
Basis der aristotelischen Philosophie zu entwickeln. In den 1960er Jahren
folgten ihr andere Philosophinnen und Philosophen, die zunächst im Bereich der
Ethik auf Aristoteles Bezug nahmen. Man kann dies als die Anfänge des
Neoaristotelismus in der analytischen Philosophie bezeichnen. Die bekanntesten Namen,
die mit einer an Aristoteles orientierten Ethik verbunden sind, sind Iris
Murdoch, Alasdair MacIntyre, Philippa Foot und Martha Nussbaum. Allerdings
unterscheiden sich diese Positionen erheblich und der Einfluss der
aristotelischen Ethik ist teilweise nur noch sehr schwach erkennbar, besonders
bei Martha Nussbaum. Kennzeichnend für den Neoaristotelismus in der
analytischen Philosophie ist eine meist nur sehr begrenzte Bezugnahme auf
partikuläre Positionen des Aristoteles, wie die Tugendlehre (Aristoteles war
kein Tugendethiker), oder der ontologischen Theorie der „Dispositionen“ (ein
Aspekt der Akt-Potenz-Theorie).
Während die Ethik bis heute der wohl wichtigste
Anknüpfungspunkt der Neoaristoteliker ist, gab es aber auch eine neue
Auseinandersetzung mit der aristotelischen Philosophie auf anderen Gebieten der
Philosophie, die vor allem durch den bekannten Logiker Peter Geach, dem Ehemann
Anscombes, ausgelöst wurde. Hierzu gehören Sozialphilosophie und Politik, die
Wissenschaftstheorie und die Metaphysik. Von dort war der Weg nicht mehr weit
zu Thomas von Aquin, dem wichtigsten Interpreten des Aristoteles.
Analytischer
Thomismus
Der Begriff „analytischer Thomismus“ geht zurück auf den
schottischen Philosophen John Haldane (2002), der in den 1990er Jahren damit
eine philosophische Entwicklung charakterisierte, die er selbst am stärksten
förderte und die eine Auseinandersetzung zwischen analytischer und
thomistischer Philosophie anregen wollte. Diese neue thomistische Bewegung
wurde beeinflusst von einigen neuscholastischen Philosophen der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts, die teilweise in Nordamerika lehrten. Zu nennen sind hier
Namen wie Charles de Koninck, Etienne Gilson, Jacques Maritain, Réginald
Garrigou-Lagrange und Eduardo Hugon. Die Bezeichnung „analytischer Thomismus“
ist allerdings bis heute sehr vage, da es keine gemeinsamen Lehren gibt, die
von allen Philosophen geteilt werden, die unter dieser Bezeichnung
zusammengefasst werden. Das Einzige, was sie gemeinsam haben besteht darin,
dass sie von ihrer Ausbildung her analytische Philosophen waren und sich in
unterschiedlicher Weise auf Thomas von Aquin beziehen. Viele dieser Philosophen
und besonders diejenigen, die sich eng mit Thomas verbunden fühlen, würden sich
selbst nicht als analytische Thomisten bezeichnen und stehen dem sogenannten
„analytischen Thomismus“ eher kritisch gegenüber. Dies gilt in besonderer Weise
von historisch orientierten thomistischen Philosophen (Stephen L. Brock 2006,
283-302).
Man kann die sogenannten analytischen Thomisten nach der
Neigung einteilen, die sie hinsichtlich der analytischen Seite der Philosophie
oder mehr die thomistische Seite haben, bzw. ob sie beide Seiten als
gleichberechtigt betrachten (vgl. Edward Feser, Blogbeitrag vom 18.10.2009).
Bei denjenigen, die sich stärker als analytische Philosophen bezeichnen, gibt
es eine zusätzliche Gemeinsamkeit: sie lehnen fast durchweg den analogen
Seinsbegriff Thomas von Aquins ab und verteidigen einen auf Gottlob Frege
zurückgehenden univoken Seinsbegriff. Durch eine Ablehnung des analogen
Seinsbegriffs wird allerdings eine der wichtigsten Grundlagen des thomistischen
Philosophie beseitigt. Daher kommt es bei analytischen Thomisten teilweise zu
erheblichen Missverständnissen bei der Interpretation der Texte Thomas von
Aquins. Ein Beispiel dafür ist Elisabeth Anscombe selbst in ihrem
Missverständnis des Begriffs der Notwendigkeit bei Thomas und Aristoteles
(Stephen L. Brock 2006, 283-302). Ein Unverständnis für die bei Thomas wichtige
Unterscheidung von logischer und realer Notwendigkeit (bzw. Möglichkeit),
findet sich auch bei anderen analytischen Thomisten.
Um einige Namen zu nennen, die heute häufig mit der
Bezeichnung „ana- lytischer Thomismus“ in Verbindung gebracht werden, möchte
ich mich auf die Einteilung dieser Gruppe beziehen, die ich zuvor eingeführt
habe. Analytische Thomisten, die stärker der analytischen Philosophie zuneigen,
zeigen ein gewisses Interesse an bestimmten Theorien Thomas von Aquins und
verteidigen auch solche Theorien, während sie in anderen Punkten, die oft
zentral für Thomas sind, deutlich von ihm abweichen. Am bekanntesten für diesen
Zugang zu Thomas dürfte der ehemalige Dominikaner Anthony Kenny sein. Auch der
Philosophiehistoriker Robert Pasnau fällt in diese Gruppe. Die zweite Gruppe
sind analytische Thomisten, die sich selbst in einem gewissen Sinne als
Thomisten verstehen und versuchen, die Philosophie Thomas von Aquins mit der
analytischen Philosophie zu harmonisieren. Zahlreiche analytische Thomisten
dürften zu dieser Gruppe gehören, die wohl den Kern des analytischen Thomismus
ausmacht. Dazu gehören Peter Geach, Brian Davies oder C. F. J. Martin, aber
auch John Haldane und die bekannten Vertreter der New Natural Law Theory, deren
Kennzeichen es ist, dass sie die Kritik David Humes am Sein-Sollens-Fehlschluss
akzeptieren und die Naturrechtstheorie Thomas von Aquins dementsprechend so
verändert haben, dass dieses Problem vermieden wird. Das hat allerdings zur
Folge, dass von der klassischen Naturrechtsethik nicht viel übrigbleibt und die
New Natural Law Theory mehr mit Kant als mit Thomas gemeinsam hat (Steven J.
Jensen 2015; Edward Feser 2015, 297-32; 321-356). Auch die meisten Philosophen
dieser Gruppe, sofern sie sich mit ontologischen Fragen beschäftigen, lehnen
einen analogen Seinsbegriff ab. Philosophiehistoriker, wie Eleonore Stump oder
Norman Kretzmann könnte man auch dazu rechnen, wobei es davon abhängt, über
welches Thema sie gerade schreiben.
Bei der dritten Gruppe handelt es sich um echte thomistische
Philosophen, die häufig kritisch gegen die zuvor genannten Philosophen
eingestellt sind und das Prädikat „analytisch“ für sich eher zurückweisen,
obwohl sie von ihrer Ausbildung analytische Philosophen sind. Sie versuchen
allenfalls bestimmte Methoden und Begriffe der analytischen Philosophie bei der
Interpretation Thomas von Aquins zu verwenden, wobei die moderne Logik eine
wichtige Rolle spielt, sie sind aber im Übrigen weit mehr Thomisten als
analytische Philosophen. Bekannte Vertreter dieser Richtung sind David S.
Oderberg, Edward Feser, Gyula Klima, Galen Kerr und Steven Jensen. Im
Unterschied zu den meisten der zuvor genannten Philosophen konzentrieren sich
diese Philosophen besonders auf Ontologie und Metaphysik oder sie betonen die
Bedeutung der thomistischen Metaphysik auch für andere philosophische
Fragestellungen (Jensen besonders für die Ethik).
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen