Dienstag, 6. Juli 2021

Aristotelisch-Thomistische Philosophie im 21. Jahrhundert. Teil 1


 Im Folgenden veröffentliche ich in mehreren Teilen ein Beitrag über die aktuellen Entwicklungen in der aristotelisch-thomistischen Philosophie, der kürzlich in einem Sonderheft der Zeitschrift „DIVINITAS. Rivista Internazionale di Ricerca e di Critica Teologica“ erscheinen ist. Der Beitrag passt sehr gut zu meinem Blog, da er die „Neue Scholastik im 21. Jahrhundert“ perfekt darstellt und zusammenfasst. Der Beitrag hat im Druck allerdings 16 Seiten, so dass ich ihn in verschiedene Teile aufteilen muss. Hier nun der erste Teil dieses Artikels.


ARISTOTELISCH-THOMISTISCHE PHILOSOPHIE IM 21. JAHRHUNDERT

 

Von Rafael Hüntelmann

 

Einleitung

Die Philosophie des Aristoteles hat in nahezu jedem Jahrhundert der abendländischen Philosophiegeschichte eine Renaissance erlebt. Ein Höhepunkt war die scholastische Philosophie des 13. Jahrhunderts, an deren Spitze Thomas von Aquin steht. Die neuzeitliche Philosophie und bereits die Philosophie der Renaissance verstand sich hingegen als radikal antiaristotelisch, so dass die aristotelisch-scholastische Philosophie weitgehend verdrängt wurde und eher im Hintergrund, weiterhin gefördert durch die katholische Kirche, überlebte. Erst mit der Enzyklika Papst Leo XIII. Aeterni patris gab es nicht nur einen enormen Aufschwung der scholastischen Theologie, sondern auch der scho- lastischen Philosophie und des Aristotelismus. In den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts waren über die Hälfte der Beiträge in philosophischen Fachzeitschriften mit Aufsätzen zur neuscholastischen Philosophie gefüllt. Diese fruchtbare und produktive Phase der aristotelisch-thomistischen Philosophie endete mehr oder weniger abrupt mit dem II. Vatikanum. Danach wurde es still, nicht nur um den Neuthomismus, die Neuscholastik, sondern auch um die aristotelische Philosophie, die nur noch von historischem Interesse waren.

 

Die Entwicklung der analytischen Philosophie

Andere Philosophien traten in den Mittelpunkt der Debatte, in Deutschland vor allem die Phänomenologie und Martin Heidegger, in Frankreich der Existenzialismus, der Strukturalismus und später die postmoderne Philosophie, die alle Anleihen bei der Phänomenologie und Martin Heidegger nahmen. Im angelsächsischen Raum hingegen entwickelte sich aus dem Positivismus des 19. Jahrhunderts eine streng szientistische Philosophie in der Tradition des Wiener Kreises. Die meisten dieser Philosophen waren Deutsche und Österreicher, die unter der nationalsozialistischen Diktatur in die USA immigrierten. Diese Philosophen verengten zunächst das Gebiet der Philosophie auf Logik, Wissenschaftstheorie und Sprachanalyse. Aus diesem Ansatz entwickelte sich dann etwa seit den 1950er Jahren das, was man seit längerem als analytische Philosophie bezeichnet. Auch in der analytischen Philosophie wurde der Widerspruch zwischen Empirismus und Rationalismus bewahrt, der die gesamte neuzeitliche Philosophie kennzeichnet. Die Empiristen beschäftigten sich vorwiegend mit Wissenschaftstheorie, während die Rationalisten das Gewicht auf Begriffsanalyse legten. In beiden Richtungen der analytischen Philosophie spielte allerdings immer die Frage der Bedeutung eine zentrale Rolle. Bei den Bedeutungstheorien gab es ebenfalls wieder den Unterschied zwischen Philosophen, die sich besonders mit der Bedeutung künstlicher, bzw. idealer Sprachen (Logik) beschäftigten (Bertrand Russell) und andere, die vor allem eine Bedeutungstheorie der Normalsprache (der spätere Wittgenstein) entwickelten.

In der weiteren Entwicklung der analytischen Philosophie seit den 1960er Jahren wurde die massive Verengung auf Logik, Wissenschaftstheorie und Sprachphilosophie zunehmend aufgegeben und man wendete sich auch klassischen philosophischen Fragestellungen zu. Hierzu gehört die Ethik, die Philosophie des Geistes, seit den 1980er Jahren dann zunehmend Metaphysik und Ontologie bis hin zur Sozialphilosophie, Religionsphilosophie und Ästhetik. Heute gibt es kein einziges Gebiet der Philosophie, das nicht auch von analytischen Philosophen thematisiert wird. Dies hat andererseits dazu geführt, dass der Begriff „analytische Philosophie“ immer mehr entkernt und ausgehöhlt wurde und heute praktisch kaum noch eine klar bestimmbare inhaltliche Bedeutung besitzt. Allenfalls könnte man sagen, dass analytische Philosophen großen Wert auf klare und eindeutige Aussagen legen, dass diese Aussagen in einem logischen Kontext stehen sollten und mit Hilfe der Logik überprüfbar sein sollten und dass sie Hermeneutik und Transzendentalphilosophie ablehnen. Das aber gilt alles auch von scholastischen Philosophen und so gibt es Philosophen, die tatsächlich die Auffassung vertreten, dass die moderne analytische Philosophie eine Wiederbelebung der scholastischen Philosophie mit den Mitteln der modernen Logik darstellt (Uwe Meixner 2020, 26 ff.). Ein Unterschied zwischen Scholastik und analytischer Philosophie ist allerdings, dass die übergroße Mehrheit der analytischen Philosophen zum Agnostizismus und Atheismus neigen, was besonders für die empiristisch gesinnten Philosophen gilt.

 

Von der analytischen Philosophie zum analytischen Thomismus Ein Geburtsfehler der analytischen Philosophie war ihre geringe Bezugnahme auf die Philosophiegeschichte. Eine Auseinandersetzung mit historischen Positionen der Philosophie fand mit wenigen Ausnahmen kaum statt. Ausnahmen sind kritische Auseinandersetzungen mit einige Philosophien der englischen Tradition, vor allem mit David Hume, aber Antike und Mittelalter, oder auch die rationalistische Tradition der frühen Neuzeit spielten lange Zeit kaum eine Rolle. Dies änderte sich erst, zumindest teilweise, in den 1960er Jahren, vor allem auch durch den Einfluss kontinentaleuropäischer Philosophen in der analytischen Philosophie, durch die rationalistische Philosophen wie René Descartes, Leibniz und Bolzano wiederentdeckt wurden. Das Verdienst, Aristoteles wieder in die Diskussion gebracht zu haben, kommt besonders der englischen Philosophin und Wittgenstein-Schülerin Elisabeth Anscombe zu. Als enge Schülerin und Mitarbeiterin Wittgensteins genoss Anscombe hohes Ansehen in der analytischen Philosophie und konnte so einen nicht unerheblichen Einfluss ausüben. In einem berühmten Aufsatz über Modern Moral Philosophy (1958) „wendete sie sich gegen utilitaristische und kantische Begründungsformen normativer Ethik, mit dem Ziel, das Feld für die Entwicklung tugendethischer Theorien des Guten zu öffnen (M. Hähnel 2019). Sie widerlegte den seit langem als selbstverständlich geltenden sogenannten „Sein-Sollens-Fehlschluss“, der auf David Hume zurückgeht, nach dem es nicht möglich sein soll, vom Sein auf ein Sollen zu schließen, und sie versuchte, eine objektive Grundlage der Ethik auf Basis der aristotelischen Philosophie zu entwickeln. In den 1960er Jahren folgten ihr andere Philosophinnen und Philosophen, die zunächst im Bereich der Ethik auf Aristoteles Bezug nahmen. Man kann dies als die Anfänge des Neoaristotelismus in der analytischen Philosophie bezeichnen. Die bekanntesten Namen, die mit einer an Aristoteles orientierten Ethik verbunden sind, sind Iris Murdoch, Alasdair MacIntyre, Philippa Foot und Martha Nussbaum. Allerdings unterscheiden sich diese Positionen erheblich und der Einfluss der aristotelischen Ethik ist teilweise nur noch sehr schwach erkennbar, besonders bei Martha Nussbaum. Kennzeichnend für den Neoaristotelismus in der analytischen Philosophie ist eine meist nur sehr begrenzte Bezugnahme auf partikuläre Positionen des Aristoteles, wie die Tugendlehre (Aristoteles war kein Tugendethiker), oder der ontologischen Theorie der „Dispositionen“ (ein Aspekt der Akt-Potenz-Theorie).

Während die Ethik bis heute der wohl wichtigste Anknüpfungspunkt der Neoaristoteliker ist, gab es aber auch eine neue Auseinandersetzung mit der aristotelischen Philosophie auf anderen Gebieten der Philosophie, die vor allem durch den bekannten Logiker Peter Geach, dem Ehemann Anscombes, ausgelöst wurde. Hierzu gehören Sozialphilosophie und Politik, die Wissenschaftstheorie und die Metaphysik. Von dort war der Weg nicht mehr weit zu Thomas von Aquin, dem wichtigsten Interpreten des Aristoteles.

 

Analytischer  Thomismus

Der Begriff „analytischer Thomismus“ geht zurück auf den schottischen Philosophen John Haldane (2002), der in den 1990er Jahren damit eine philosophische Entwicklung charakterisierte, die er selbst am stärksten förderte und die eine Auseinandersetzung zwischen analytischer und thomistischer Philosophie anregen wollte. Diese neue thomistische Bewegung wurde beeinflusst von einigen neuscholastischen Philosophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die teilweise in Nordamerika lehrten. Zu nennen sind hier Namen wie Charles de Koninck, Etienne Gilson, Jacques Maritain, Réginald Garrigou-Lagrange und Eduardo Hugon. Die Bezeichnung „analytischer Thomismus“ ist allerdings bis heute sehr vage, da es keine gemeinsamen Lehren gibt, die von allen Philosophen geteilt werden, die unter dieser Bezeichnung zusammengefasst werden. Das Einzige, was sie gemeinsam haben besteht darin, dass sie von ihrer Ausbildung her analytische Philosophen waren und sich in unterschiedlicher Weise auf Thomas von Aquin beziehen. Viele dieser Philosophen und besonders diejenigen, die sich eng mit Thomas verbunden fühlen, würden sich selbst nicht als analytische Thomisten bezeichnen und stehen dem sogenannten „analytischen Thomismus“ eher kritisch gegenüber. Dies gilt in besonderer Weise von historisch orientierten thomistischen Philosophen (Stephen L. Brock 2006, 283-302).

 

Man kann die sogenannten analytischen Thomisten nach der Neigung einteilen, die sie hinsichtlich der analytischen Seite der Philosophie oder mehr die thomistische Seite haben, bzw. ob sie beide Seiten als gleichberechtigt betrachten (vgl. Edward Feser, Blogbeitrag vom 18.10.2009). Bei denjenigen, die sich stärker als analytische Philosophen bezeichnen, gibt es eine zusätzliche Gemeinsamkeit: sie lehnen fast durchweg den analogen Seinsbegriff Thomas von Aquins ab und verteidigen einen auf Gottlob Frege zurückgehenden univoken Seinsbegriff. Durch eine Ablehnung des analogen Seinsbegriffs wird allerdings eine der wichtigsten Grundlagen des thomistischen Philosophie beseitigt. Daher kommt es bei analytischen Thomisten teilweise zu erheblichen Missverständnissen bei der Interpretation der Texte Thomas von Aquins. Ein Beispiel dafür ist Elisabeth Anscombe selbst in ihrem Missverständnis des Begriffs der Notwendigkeit bei Thomas und Aristoteles (Stephen L. Brock 2006, 283-302). Ein Unverständnis für die bei Thomas wichtige Unterscheidung von logischer und realer Notwendigkeit (bzw. Möglichkeit), findet sich auch bei anderen analytischen Thomisten.

Um einige Namen zu nennen, die heute häufig mit der Bezeichnung „ana- lytischer Thomismus“ in Verbindung gebracht werden, möchte ich mich auf die Einteilung dieser Gruppe beziehen, die ich zuvor eingeführt habe. Analytische Thomisten, die stärker der analytischen Philosophie zuneigen, zeigen ein gewisses Interesse an bestimmten Theorien Thomas von Aquins und verteidigen auch solche Theorien, während sie in anderen Punkten, die oft zentral für Thomas sind, deutlich von ihm abweichen. Am bekanntesten für diesen Zugang zu Thomas dürfte der ehemalige Dominikaner Anthony Kenny sein. Auch der Philosophiehistoriker Robert Pasnau fällt in diese Gruppe. Die zweite Gruppe sind analytische Thomisten, die sich selbst in einem gewissen Sinne als Thomisten verstehen und versuchen, die Philosophie Thomas von Aquins mit der analytischen Philosophie zu harmonisieren. Zahlreiche analytische Thomisten dürften zu dieser Gruppe gehören, die wohl den Kern des analytischen Thomismus ausmacht. Dazu gehören Peter Geach, Brian Davies oder C. F. J. Martin, aber auch John Haldane und die bekannten Vertreter der New Natural Law Theory, deren Kennzeichen es ist, dass sie die Kritik David Humes am Sein-Sollens-Fehlschluss akzeptieren und die Naturrechtstheorie Thomas von Aquins dementsprechend so verändert haben, dass dieses Problem vermieden wird. Das hat allerdings zur Folge, dass von der klassischen Naturrechtsethik nicht viel übrigbleibt und die New Natural Law Theory mehr mit Kant als mit Thomas gemeinsam hat (Steven J. Jensen 2015; Edward Feser 2015, 297-32; 321-356). Auch die meisten Philosophen dieser Gruppe, sofern sie sich mit ontologischen Fragen beschäftigen, lehnen einen analogen Seinsbegriff ab. Philosophiehistoriker, wie Eleonore Stump oder Norman Kretzmann könnte man auch dazu rechnen, wobei es davon abhängt, über welches Thema sie gerade schreiben.

 

Bei der dritten Gruppe handelt es sich um echte thomistische Philosophen, die häufig kritisch gegen die zuvor genannten Philosophen eingestellt sind und das Prädikat „analytisch“ für sich eher zurückweisen, obwohl sie von ihrer Ausbildung analytische Philosophen sind. Sie versuchen allenfalls bestimmte Methoden und Begriffe der analytischen Philosophie bei der Interpretation Thomas von Aquins zu verwenden, wobei die moderne Logik eine wichtige Rolle spielt, sie sind aber im Übrigen weit mehr Thomisten als analytische Philosophen. Bekannte Vertreter dieser Richtung sind David S. Oderberg, Edward Feser, Gyula Klima, Galen Kerr und Steven Jensen. Im Unterschied zu den meisten der zuvor genannten Philosophen konzentrieren sich diese Philosophen besonders auf Ontologie und Metaphysik oder sie betonen die Bedeutung der thomistischen Metaphysik auch für andere philosophische Fragestellungen (Jensen besonders für die Ethik).

 

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