Montag, 21. April 2014

Gibt uns die Wissenschaft eine vollständige Beschreibung der Realität?

Der Szientismus ist der Überzeugung, dass allein die Naturwissenschaften in der Lage sind, eine vollständige Beschreibung der Wirklichkeit zu geben. Doch darin besteht das zweite Hauptproblem des Szientismus, denn dieser ist nicht einmal in der Lage eine vollständige Beschreibung der physischen Realität zu geben. Der Grund dafür liegt gerade in der Methode der Naturwissenschaften. Denn die Methode der Physik, wie auch die Methoden der anderen Naturwissenschaften besteht ausschließlich in einer quantitativen Beschreibung der Welt. Darin liegt einerseits ihr großer Erfolg und ihre Fähigkeit, Ereignisse vorherzusagen, doch andererseits ist dies auch die Grenze der Wissenschaft.



Grundlage der naturwissenschaftlichen Methode ist die mathematische Erfassung der Wirklichkeit. Alles was dieser mathematischen Erfassung nicht fähig ist, ist von vornherein aus der naturwissenschaftlichen Untersuchung ausgeschlossen. Galileo hat diese Methode dadurch beschrieben, dass er behauptet, dass das Buch der Natur in der Sprache der Mathematik geschrieben ist. Was sich mit Hilfe der Mathematik erfassen lässt, dass ist Gegenstand der Naturwissenschaft und das ist zugleich vorhersagbar und kontrollierbar. Was außerhalb dieser methodischen Voraussetzung fällt, findet in der Naturwissenschaft keine Beachtung. Dies ist an sich überhaupt kein Problem, denn darauf beruhen ja gerade die Methode und der Erfolg der Naturwissenschaft. Problematisch wird dies erst, wenn man behauptet, dass dies und nichts anderes die ganze Wirklichkeit ist.

Nun ist aber gerade unsere gewöhnliche Erfahrung der Natur qualitativ. Wir sehen und erfahren Farben, Töne, Gerüche, Geschmack, Wärme und Kälte, Schmerz; wir haben Gedanken, wir treffen Entscheidungen usw. Die Physik abstrahiert von all diesen Erfahrungen und konzentriert sich allein auf die quantitativen Aspekte der Realität. Edward Feser vergleicht dieses Verfahren mit dem Ingenieur, der das Durchschnittsgewicht der Passagiere eines Flugzeugs berechnet, indem er von allem anderen abstrahiert: Das es große und kleine, dicke und dünne, weiß, schwarz oder gelbhäutige Menschen sind, Menschen mit diesen oder jenen Vorlieben usw. Kein Ingenieur käme aber deshalb auf die Idee zu behaupten, dass Menschen nichts anderes sind als materielle Körper mit einem Gewicht von 74 kg.

Die Beschreibung die die Physik (als grundlegende Naturwissenschaft und Modell jeder anderen Wissenschaft) uns gibt, ist aber vergleichbar mit diesem Ingenieur. So wenig wie die Methode des Flugzeugingenieur beweist, dass Menschen nichts anderes sind als Körper mit 74 kg, so wenig beweist die Methode der Physik, dass es nichts anderes in der Welt gibt, als das, was die Physik von der Welt erfasst.

Der Erfolg der Naturwissenschaften beruht darauf, dass sie von allen Aspekten abstrahiert, die sich nicht quantitativ-mathematisch erfassen lassen. Alles andere wurde in den Bereich der Subjektivität verlegt und aus der objektiven Welt ausgeschlossen. Was wir als Farben wahrnehmen ist dann „nichts anderes als“ bestimmten Wellenlängen des Lichts; was wir als Töne wahrnehmen sind „nichts anderes als“ bestimmte Schallwellen und was wir als Zahnschmerzen empfinden ist dann „nichts anderes als“ bestimmte elektrische Impulse. Doch damit stellt sich dann die Frage, wie denn nun diese subjektiven Phänomene, die unbestreitbar vorhanden sind, zu interpretieren sind. Und genau in dieser Frage besteht das gesamte Problem der sogenannten „Philosophie des Geistes“. Thomas Nagel hat in seinem jüngsten Buch dieses Problem richtig erfasst. Das Problem ist nämlich, dass der Geist oder die Seele, oder das Bewusstsein, wie es in der neuzeitlichen Philosophie zumeist heißt, selbst nicht als ein physikalischen Objekt behandelt werden kann. Daraus folgt einerseits der radikale Dualismus a la Descartes und auf der anderen Seite der Physikalismus, dessen konsequenteste Variante der Eliminativismus ist, der behauptet, dass es solche subjektiven Phänomene wie Schmerzen oder Empfindungen und Gedanken überhaupt gar nicht gibt.

(Mehr dazu in: Edward Feser: Scholastic Metaphysics. A Contemporary Introduction)


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